Man steht morgens auf, hat gute Vorsätze – und am Ende des Tages hat man wieder zu viel gegessen, die E-Mails nicht beantwortet und sich im Gespräch mit dem Kollegen dümmer verkauft, als man eigentlich ist. Warum? Weil unsere Erwartungen an uns selbst (und an andere) oft mehr Wunschdenken als Realität sind.
Wir überschätzen, wie besonders wir sind
Die meisten Menschen halten sich für moralischer, klüger und empathischer als den Durchschnitt. Das Problem: Das geht rein rechnerisch nicht auf. Trotzdem gehen viele durch die Welt mit der Überzeugung, ihre Gedanken wären besonders tiefgründig, ihre Entscheidungen besonders überlegt. In Wirklichkeit funktionieren wir meist auf Autopilot, reagieren impulsiv und rationalisieren hinterher. Wer das nicht glaubt, sollte sich mal bewusst machen, wie viele „bewusste Entscheidungen“ am Tag eigentlich nur Gewohnheit sind.
Beispiel gefällig? Der Vorsatz, abends keine Chips mehr zu essen. Um 20 Uhr weiß man noch, wie schlecht man sich gestern gefühlt hat. Um 21 Uhr steht man trotzdem vor dem Schrank. Um 21:05 ist die Tüte leer – und man hat eine gute Ausrede: „War halt ein stressiger Tag.“
Erwartungen machen uns unglücklich
Wir glauben, bestimmte Dinge müssten uns glücklich machen: die Beförderung, die neue Wohnung, die richtige Beziehung. Und ja – für einen Moment fühlt sich das auch gut an. Aber spätestens nach ein paar Wochen ist alles wieder normal. Die Wohnung ist schöner, aber der Nachbar nervt. Die Beziehung ist stabil, aber der Alltag zieht ein. Und der neue Job bringt mehr Verantwortung – und mehr Mails.
Das nennt sich „hedonistische Adaption“: Wir gewöhnen uns schnell an Neues, auch an das Gute. Und dann kommt das nächste Ziel. Und wieder eins. Bis man irgendwann merkt, dass man in einem Hamsterrad läuft – mit Netflix als Abendprogramm und dem Gedanken: „Irgendwas fehlt.“
Lebensmitte: Willkommen im Club der Sinnsuchenden
Man muss nicht 50 sein, um sich in der Lebensmitte zu fühlen. Oft reicht ein Montag. Oder das Gefühl, dass man irgendwie „alles“ hat, aber trotzdem nicht zufrieden ist. Viele erleben eine Phase, in der Fragen auftauchen, auf die es keine einfachen Antworten gibt: War’s das? Kommt da noch was? Bin ich überhaupt der Mensch, der ich sein wollte?
Das ist kein persönliches Versagen. Es ist ein kollektives Phänomen. Studien zeigen, dass das Wohlbefinden oft in der Lebensmitte abnimmt – egal, ob man in Stuttgart lebt oder in Singapur. Es ist also nicht dein Job, dein Partner oder das Wetter. Es ist dein Kopf.
„Sei du selbst“ – nur dumm, wenn man nicht weiß, wer das ist
Ein beliebter Ratschlag: „Sei einfach du selbst.“ Klingt super. Bis man merkt, dass man sich selbst gar nicht so gut kennt. Wer ist dieses „Ich“, das authentisch sein soll? Der, der am Sonntag motiviert Pläne macht – oder der, der am Montagmorgen den Wecker fünfmal wegdrückt?
Authentisch sein bedeutet nicht, einfach alles rauszuhauen, was man denkt. Es bedeutet, zu wissen, was einem wichtig ist – und entsprechend zu handeln. Und das ist Arbeit. Kein Pinterest-Zitat.
Was bleibt?
Am Ende des Tages geht es nicht darum, immer alles richtig zu machen. Aber ein bisschen ehrlicher mit sich selbst zu sein, hilft. Erwartungen runterzuschrauben – nicht ins Zynische, sondern ins Realistische. Und nicht jedem Gefühl sofort hinterherzulaufen.
Vielleicht sind wir gar nicht so besonders. Aber das macht uns menschlich. Und das ist – wenn man ehrlich ist – schon kompliziert genug.